Berlin, Deutschland (Gastrosofie). „Der hat noch niemals deine Speise erfahren, nie eine Speise durchgemacht, der immer Maß mit ihr hielt. So lernt man allenfalls den Genuss an ihr, nie aber die Gier nach ihr kennen“, formulierte einst Walter Benjamin, der als Denker dichtete und als Dichter dachte. An den Übersetzer, Kritiker und Philosophen Benjamin, der 1892 in Charlottenburg das Licht der Welt unter dem Namen Walter Bendix Schoenflies Benjamin erblickte, fortan in Berlin mehr als nur Kinder- und Jugendjahre verbrachte und sein Licht 1940 in Portbou löschte, wird immer noch gedacht. Das ist gut so, vor allem auch an schönen, sonnigen Orten wie eben jenem unmittelbar an der spanisch-französischen Grenze gelegenen Portbou an der Costa Brava.
Dazu zählt zweifelsohne auch der Walter-Benjamin-Platz zwischen Wieland- und Leibnizstraße in Berlin-Charlottenburg, der am 25. April 2000 nach dem Charlottenburger beziehungsweise Berliner benannt wurde. Der Platz mit 32 Meter Breite und 108 Meter Länge sowie einer zweiseitigen Bebauung, die sich an die Berliner Traufhöhe hält, wirkt urban. Die Fassaden der von Hans Kollhoff und Helga Timmermann entwickelten Gebäude scheinen schlicht und schmucklos, die Steinfassaden in grau-grünem Granit wirken kalt und streng, immerhin hauchen die Kolonaden mit Art-Deco-Lampen dem Ganzen Stil ein. Ein Kastanienbaum tupft sein Grün ins Grau der Steine, dessen Blätter im Sommer Schatten spenden. Ein Brunnen an der Leibnizstraße vermittelt Behaglichkeit und das Plätschern des Wassers Gemütlichkeit. In diesem Ensemble das Il Calice an der Wielandstraße mit seinem (Wein-)Kiosk, den Tischen und Stühlen, Speisen und Getränken, das zum Verweilen einlädt.
Benjamin ist ein Berliner Klassiker und das Il Calice ist es, auch wenn die Familie Bragato kurz weg war und ein anderer Herr im Hause weilte und waltete.
Seit zwei Jahren ist Antonio Bragato zurück und mit ihm gehobener Genuss bei Speis und Trank. Der Winzer, der im Friaul ein Weingut betreibt und mit seinem Sohn das Il Calice, brachte beste Weine mit, weswegen das nach einem Kelch benannte Lokal auch räumlich sichtbar sowohl eine excellente Weinbar als auch ein gehobenes Gourmetrestaurant ist.
Nicht nur der Platz, auch das Il Calice trägt die Handschrift des namhaften Architekten und Universitätsprofessors Hans Kollhoff.
Die Inneneinrichtung strahlt eine zurückhaltende Eleganz aus. Die Wände weiß und wahrhaftig wie die Tischdecken, das Holz beachtlich braun wie die Haut der Deutschen auf dem Teutonengrill bei Ravenna oder Rimini, Tropea oder Taormina nach drei Wochen Rösten, die Regale und Schautresen toll und gut gefüllt. Die großen Glasfensterfronten an zwei Seiten lassen das Licht der Welt in diesen stilvollen Raum unter der hohen Decke. Schlicht, schön, zeitlos, modern. Im Il Calice erahnt der Besseresser, dass Kollhoff klassische Baugestaltung kann und die Verwendung althergebrachter Materialien mag. Vor allem der Schautresen gestattet einen unverstellten Blick auf unverfälschte Zutaten in tadelloser Zubereitung.
Excellente Antipasti
sind das A wie Anfang, aber der Italiener geht gleich in die Vollen, statt Vorspeisen vor dem Mahl aufzutragen. Verschiedene italienische Wurst- und Schinkenspezialitäten, Carpaccio di Carne Salada vom Rind, Vitello Tonnato, Vitello alla Genovese, aromatische Rohmilchkäse, mariniertes Gemüse vom Grill, alles, was das Herz des Gourmets begehrt wird aufgetischt. Wie wäre es mit Battuta di Filetto Gallega, also ein Carpaccio vom Rinderfilet mit Sardellen, Kapern, Sellerie und Zitronenzesten? Super sind auch die Sardinen süß-sauer, eingelegt mit Zwiebeln, Rosinen und Pinienkernen. Selbstredend werden Suppen wie Minestrone Invernale und Salate wie Insalata di Burrata angeboten sowie La Grande Variazione di Mare mit gegrillten Garnelen mit Salsa Rosa, Ceviche von Gelbflossenmakrele mit Avocado und Mango, Créme von Stockfisch und Kartoffeln, sautierte Miesmuscheln, geschmorte Moscardini und ein köstliches Thunfisch-Carpaccio.
Selbstgemachte Pasta, Pesce und Carne
wie Tortelloni gefüllt mit Kalbsfleisch und mit Pilzen und schwarzen Trüffeltortelloni oder Spaghetti alle Vongole, also mit Venusmuscheln, sizilianischen Strauchtomaten und Passepierre-Algen sind Klassiker und köstlich wie die bei diesen ausgesuchten Antipasti und hausgemachten Pasta beinahe zur Nebensächlichkeit gewordenen aber durchaus raffinierten Pesce, aktuell entweder Orata (auf der Haut gebratene Wildfang-Dorade mit Romanesco-Törtchen, Wirsing und Sardellen) oder Rombo (Wild-Steinbutt mit Beluga-Linsen und Bechamel-Bouchotmuschel-Sauce), und Carne-Gerichte, darunter ein Entrecôte Americano.
Dessert
geht immer und ist bei Italienern obligatorisch das O zum A. Sowohl typisch Tiramisù Classico à la Il Calice ist zu empfehlen, als auch ein Tagesdessert im Glas. Die Cassata siciliana mit Ricotta, kandierten Orangen und Amarenakirschen zählt ganz unzweifelhaft zu den besten Desserts der italienischen Küche und ist schwer zu empfehlen.
Dazu darf es ein Americano als Kaffee oder besser noch ein Espresso sein, selbstverständlich auch ein Dessertwein.
Die Weinkarte ist beachtlich und die Weinempfehlung profund, schließlich ist Antonio Bragato Winzer und Nitya Koska Sommelier. Walter Benjamin hätte seine Freude daran, oder?
Il Calice
Walter-Benjamin-Platz 4, 10629 Berlin
Kontakt: E-Mail: restaurant@ilcalice.de, Telefon: +49 30 324 2308
Öffnungszeiten: von Montag bis Samstag in der Zeit von 12 Uhr bis 1 Uhr