Berlin, Deutschland (Gastrosofie). An einer Schule in Berlin wird Gastgewerbe nicht nur großgeschrieben, sondern häufiger als sonst. Die Rede ist vom Oberstufenzentrum (OSZ) Gastgewerbe im Berliner Ortsteil Weißensee. Dort liegt der alte See nur einen Katzensprung beziehungsweise Kochlöffelwurf entfernt und also nicht weit weg vom am 30.8.1999 errichteten OSZ in einem Neubau an der Buschallee. Das Beachtliche ist jedoch nicht das Neue, sondern daß diese Schule den Namen des Schriftstellers Jean Anthèlme Brillat-Savarin trägt. Daß damit nicht nur eine literarische Latte gelegt wurde, sondern ein hoher Anspruch gesetzt, das verstehen Kenner und Kritiker.

Am Gebäude der Brillat-Savarin-Schule, Oberstufenzentrum Gastgewerbe steht auf einem Schild „Schule ohne Rassismus“ und „Schule mit Courage“. © Münzenberg Medien, Foto/ BU: Stefan Pribnow, Ort und Datum der Aufnahme: Berlin, 14.3.2024

Eine Berliner Schule und ein Berliner Menü

Sie und anderen können die Mühen der Ebene nicht nur im Erdgeschoß, wo anstehende und gestandene Köche mit Rezepten kämpfen und mit den Regeln der deutschen Sprache. Das Niveau scheint auf den ersten Blick breit gefächert. Um Zutaten und Zubereitungen von einfachen Gerichten kümmern sich die jungen Erwachsenen für den teilnehmenden Beobachter erkennbar. Für gestandene Köche sind das Basisbanalitäten, die man für ein Berliner Menü braucht, für anstehende Köche ohne Begabung Berge. An der OSZ Gastgewerbe werden in der Tat Schüler ohne Schulabschluß aufgenommen bis hin zu solchen, die dort ihr Fachabitur absolvieren. Von Fachkraft im Gastgewerbe und Fachkraft Gastronomie und Fachkraft Küche – einer aparte Mischung vom Ritter von der trauriger Gestalt und Sancho Panza, Leuten mit niedrigem Niveau und solchen mit Hochschulreife treffen sich in der OSZ Gastgewerbe in Berlin bei der Zubereitung von Tote Oma und Arme Ritter.

Seit seiner Gründung und bald 25 Jahre lang werden im OSZ Gastgewerbe Köche ausgebildet und berufliche Weiterbildungen durchgeführt. Nach eigenen Angaben werde „in allen relevanten Bereichen des Gastgewerbes“ ausgebildet. Lehrjahre mögen keine Herrenjahre sein, beinhaltet jedoch auch im Gastgewerbe Wandertage. Das Zubereiten von Eisbeinsülze im Senfmantel, Currywurst vom Zander, Berliner Hackbraten mit Mischgemüse sowie Parfait mit Berliner Luft sollte für meinen Bildungsgeschmack die Grundlage einer (Koch-)Hauptschule bilden und nicht von Belang für eine höhere Schule des Kochens sein.

Nachtisch am OSZ Gastgewerbe in Berlin. © Münzenberg Medien, Foto/ BU: Stefan Pribnow, Ort und Datum der Aufnahme: Berlin, 14.3.2024

Zubereitet wurden diese Gerichte unter Koch Holger Rohne sowohl von Deutsch sprechenden Schülern der Brillat-Savarin-Schule als auch von Französisch sprechenden Austauschschülern. Der Anlaß war ein Schüleraustausch. Mehr noch: Zehn Jahre Partnerschaft zwischen einer gastgewerblichen Fachschule in Berlin und Bergerac wurden gefeiert.

Daß engagierte Lehrer sowie neugierige Schüler am OSZ Gastgewerbe wie einst Jean Anthèlme Brillat-Savarin, der nicht nur durch deutsche und französischsprachige Lande reiste, sondern auch durch englischsprachige, reisen, das dient der Völkerverständigung und der Erweiterung des eigenen Horizontes über den heimischen Herd hinaus. Gereist wird in die weite Welt. Die Programme und Partnerschaften scheinen vielfältig. In ein französischsprachiges Überseedépartement, genauer: nach Guadeloupe, geht die eine Reise und die andere ins Département Dordogne. Schüler der Brillat-Savarin-Schule reisen also wie der am 1. April 1755 in Belley, Département Ain, geboren Jean Anthèlme Brillat-Savarin, der am 2. Februar 1826 in Paris starb, zu fremden Leute in ferne Lande.

Jean Anthèlme Brillat-Savarin, Universalgelehrte und Gastrosoph

Daß Jean Anthèlme Brillat-Savarin nicht nur ein geachteter Universalgelehrte und beachteter Schriftsteller war, sondern auch bedeutender Gastrosoph, der die Welt anschaute und eine Anschauung nicht nur im Gerichtssaal vertrat, das wissen in der Welt des Geistes und der Geschichte bewanderte. Er war weniger ein Mann der Ersten Französischen Republik als vielmehr des Ersten Französischen Kaiserreiches. Ein Kaiser war seine Sache und kein fünfköpfiges Kollegialorgan. Jean Anthèlme Brillat-Savarin reiste also ab, als die Revolutionäre richteten, und an, um unter Napoleon Bonaparte, der nicht mehr nur General war, sondern Napoleon I., zu richten. Richtig, Brillat-Savarin war Richter unter dem Kaiser.

Zudem schrieb er Bücher über die Kochkunst, den guten Geschmack und das höhere Tafelvergnügen. Sein wohl bekanntestes Werk trägt den Titel „Physiologie des Geschmacks oder Physiologische Anleitung zum Studium der Tafelgenüsse“ und wurde von Carl Vogt übersetzt. Das OSZ Gastgewerbe trägt mit dem Titel Brillat-Savarin-Schule also einen großen Namen. Das ist wohl weniger eine gewisse Ehre als vielmehr eine hohe Latte, die – keine Frage – gerissen wird. Daß die Verpflichtung auch den Träger der Schule verpflichten, das ist wohl wahr. Mehr und bessere Lehrende und Lernende, erstere müssen offenbar viel Geduld mit allerlei jungen Männern und Frauen aufbringen und letztere anscheinend viel Zeit mit Basisbanalitäten verbringen, wären gut und nicht schlecht. Der erste Eindruck mag täuschen, aber auch die Ausstattung ist nicht mehr auf dem neuesten Stand der Technik und für das Polit-Pack der BRD-Hauptstadt eine Schande, auch wenn sie augenscheinlich gut in Schuß gehalten wird.

Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt. Sieh sie dir an. (Kurt Tucholsky)

Daß dies einigen jungen Männern und Frauen auf dem Weg ins (Berufs-)Leben möglich wird, das ist auch Holger Rohne, der nicht nur Koch ist, sondern Lehrer für Fachpraxis und Organisator, zu verdanken, und Ulrike Pohlit. Sie arbeitete einst als Französischlehrerin und noch heute verantwortlich für die Organisation des Schüleraustausches, auch wenn Köchin Annette Voigt, die auf dem Feld, in der Küche und in den Köpfen etwas verändern möchte, ihr folgte. Voigt ist Fachbereichsleiterin für Speisenbereitung und Gemeinschaftsverpflegung. Mittenmang statt nur dabei scheint Monsieur Thomas Rypinski zu sein. Der Mann arbeitet als Deutschlehrer in Bergerac, organisiert wie Ulrike Pohlit den Austausch und betreut die Austauschschüler in Berlin. Pohlit und Rypinski gelten diesbezüglich als Aktivisten der ersten Stunde.

Gruppenbild mit deutsch- und französischsprachigen Lehrern und Schülern aus Bergerac und Berlin im Hof der Brillat-Savarin-Schule.
© Münzenberg Medien, Foto/ BU: Stefan Pribnow, Ort und Datum der Aufnahme: Berlin, 14.3.2024

Pro Tandem, Metropole und Provinz

Neben diesem gibt es noch ein anderes Tandem. Das „ProTandem“ (Eigenschreibweise) sei nach eigenen Angaben eine deutsch-französische Agentur für den Austausch in der beruflichen Bildung mit Sitz in Saarbrücken. Der Mitarbeiter würden „seit 1990 deutsch-französische Austausche von Jugendlichen und Erwachsenen in der beruflichen Bildung mit jährlich rund 3 000 Teilnehmenden in über 50 Berufsgruppen“ fördern.

Holger Rohne, Ulrike Pohlit und Thomas Rypinski erklären einer Hand voll Gästen in einer der ein Dutzend Küchen der Brillat-Savarin-Schule das Pro-Tandem-Projekt. Berliner Schüler würden in der Region Périgord nicht nur Land und Leute kennenlernen, sondern auch die Vielfalt und Spezialitäten dieser Region im vergrößerten Westfrankenreich, darunter Entenstopfleber und Trüffel, aber auch den beliebten Süßwein Monbazillac, der vorrangig um Bergerac angebaut werde. Die Austauschschüler aus Berlin würden auch die Universitätsstadt Bordeaux samt Umland besuchen und sich vor Ort beispielsweise eine Austernzucht anschauen und erklären lassen. Ein Höhepunkt sei immer der Besuch eines Wochenmarktes. Allein die Anzahl der verschiedenen Tomaten: „Man fängt an zu zählen und wird nicht fertig“, weiß Holger Rohne zu berichten. Köstlichkeiten würden geboten werden und Klischee bedient. Ein Entenbauer in der Provinz, auch Entenrillette genannt, stehe rauchend und Foie gras anbietend an seinem Stand und zwar in typischer französischer Bekleidung, erzählt Rohne und weiß zu berichten, daß das die in der Metropole Berliner lebenden Schüler immer fremd- und großartig finden würden.

Umgekehrt gehe es für die französischen Schüler aus der Provinz in die große Weltstadt. Für sie stehe der Besuch verschiedener Gedenkstätten und Museen auf dem Programm, aber auch ein Besuch der Markthalle 9 und beim Blutwurstritter, welcher von einem französischen Orden zum Ritter geschlagen wurde. Gerne besucht werden würden auch der Berliner Tierpark und der Zoologische Garten. Gesehen, gehört und gelernt wird nicht nur im Park oder Zoo, sondern auch in der Brillat-Savarin-Schule sowie in gastronomischen Betrieben in Berlin. In der Küche des größten Hotels der Stadt und Republik, dem Estrel-Hotel, aber auch in der Küche des Hotels Scandic Berlin Potsdamer Platz, des Hotels Leonardo Royal Berlin-Alexanderplatz und des Berliner Brauhauses Lemke muß mehr zubereitet werden als Currywurst mit Fisch und Falscher Hase.

Vorheriger ArtikelRezept: Mein liebster Karfiol
Nächster ArtikelPlatz für Puntarelle, Pastinaken und Paprika – „Das Gemüsekisten-Kochbuch“ von Stefanie Hiekmann